Eine Reliquie geht auf Reisen
Im Jahre 829 wurde der Heilige Markus, versinnbildlicht durch den geflügelten Löwen, zum Beschützer der Republik erkoren. Wo immer die Venezianer herrschten, fand man auch den Löwen wieder, zumeist auf einer Säule.
Doch wie kam der Heilige nach Venedig, ausgerechnet Venedig?
Der Heiligenlegende nach kam der Apostel und Evangelist Markus auf Wunsch des Hl. Petrus als Missionar nach Nordostitalien. Dort gründete er als erstes das Erzbistum Aquileia (ihm unterstand auch das Gebiet, das einmal Venedig werden sollte).
Auf einer dieser Missionsreisen , so die Legende - an ihnen ist Venedig reich - verirrte sich der Heilige in der Lagune und legte sich bei einbrechender Dunkelheit auf einer Insel nieder. Im Traum erschien ihm ein Engel, der ihn mit den Worten "pax tibi Marce" (lat. Friede sei mit Dir, Markus, steht übrigens in dem Buch, das der Löwe mit seiner Pranke hält) begrüßte.
Normalerweise sieht man den Markuslöwen mit geöffnetem Buch. In Kriegszeiten wurde er hingegen mit geschlossenem Buch dargestellt. Also nichts mit Pax tibi..
Der Engel prophezeite, dass genau an dieser Stelle einmal seine letzte Ruhestätte und der Ort seiner höchsten Verehrung sein werde. Und mit etwas Nachhilfe der findigen Venezianer wurde es das dann auch.
Seine Reisen führten Markus weiter in die ägyptische Stadt Alexandria, die er für das Christentum gewinnen konnte und wo er gleichfalls einen Bischofssitz einrichtete. Dort erlitt er auch sein Martyrium. Die heidnische Partei nahm in gefangen und schleifte ihn an Stricken gefesselt zu Tode. Die alexandrinischen Christen begruben ihn in seiner Bischofskirche.
Im 9. Jh. aber war die Stadt im Besitz der moslemischen Sarazenen. Ihr Kalif ordnete den Bau eines prächtigen Palastes an. Als Baumaterial verwendete man auch Teile der christlichen Kirchen. Damit geriet die letzte Ruhestättte des Evangelisten in Gefahr.
Zwei venezianischen Händlern (Rusticus und Bonus, die sich gerade zufällig in Alexandrien aufhielten und gerade ihre Andacht in der Kirche des Hl. Markus abhielten) wurde von den Besorgnis erregenden Plänen des Kalifen berichtet. Die Venezianer fackelten nicht lange und schmiedeten einen Plan, die Reliquie des Heiligen fortzuschaffen.
Zunächst mussten sie die widerstrebenden Mönche überzeugen, dass es wohl besser wäre, die Reliquie in ihre Hände zu geben als sie von den Sarazenen mißhandeln zu lassen. Die Überzeugungsarbeit gelang. Aber wie sollte man die Reliquie aus der Stadt herausbringen?
Inbrünstig flehten Bonus und Rusticus den Heiligen um Beistand an. Und so geschah es, dass ein heftiges Unwetter über der Stadt niederging, als sie seinen Leichnam aus der Kirche schafften. So gelangten sie unbemerkt mit ihrer Beute aus der Kirche. Doch wie sollten sie an den moslemischen Zöllnern vorbeikommen?
Sie wussten sich auch hier zu helfen. Sie transportierten den so "wunderbar" riechenden Leichnam in einer Kiste, bedeckt mit Schweinefleisch. Davor grauste den Zöllnern so sehr, dass sie die Venezianer unkontrolliert passieren ließen. In einer wundersam schnellen Fahrt brachten sie den Leichnam am 31. Januar nach Venedig, wo er feierlich empfangen wurde.
Man wollte die kostbare Reliquie in den Dogenpalast bringen. Beim Transport dorthin wurde sie jedoch, genau an der Stelle, an der später seine Kirche stehen sollte, so schwer, dass auch mehrere Männer den Toten nicht mehr tragen konnten. Erst als der Doge in einem Gelübde versprach, dem Heiligen genau an dieser Stelle eine Kirche zu errichten, ließ sich der Leichnam aufheben und zu seiner vorläufigen Ruhestätte tragen.
Soweit die Geschichte, oder wie es nicht nur in Venedig so heisst: "Se non é vero, é ben trovato?." (Wenn es nicht stimmt, dann ist es doch gut erfunden!)
Venedig war zu dieser Zeit in heftige Auseinandersetzungen mit dem Erzbistum Aquileia um eine unabhängige venezianische Diözese verstrickt. Nun, wo der Missionar des Erzbistums Aquileia in Venedig war, konnte nicht einmal mehr der Papst der Serenissima ein eigenes Bistum verwehren.
Nicht wenige Historiker haben deshalb behauptet, Rusticus und Bonus seien keineswegs als Händler nach Alexandrien gekommen, sondern hätten schlichtweg die Mission gehabt, die lästige Bistumsfrage durch den Raub der Heiligenreliquie ein für alle mal zugunsten Venedigs zu entscheiden.
Der Verehrung des Heiligen und dem Glauben an die Anwesenheit der Reliquie tat es auch keinen Abbruch, dass der Leichnam im Laufe der Zeit mehrmals verschwand und dann immer wieder wie durch ein Wunder - auch an diesen ist Venedig reich - unversehrt wieder auftauchte.
Kommentar
Ist es sicher, dass die beiden venezianischen Reliquienexperten Rusticus und Bono (nach immerhin 7 Jahrhunderten) die richtige Leiche gefunden und mitgenommen haben?
Wenn ja, schade, dass sie gleich verloren ging: da die Venezianer befürchten mussten, dass die alexandrinischen Christen ihren Markus wiederhaben wollten, versteckten sie die Reliquie sicherheitshalber an geheimen Ort in der Markuskirche, den nur der Doge und seine engsten Berater kannten.
Bei dem Aufstand nun gegen den Dogentyrannen Orseolo brannte im Jahre 976 die Markuskirche ab - und da der Doge ermordet wurde, wusste keiner mehr, wo Markus war!
Natürlich behielt man das für sich und - herrlich - mehr als 100 Jahre später geschieht das Wunder: Markus selbst streckt seine Hand aus der Säule, in der sein Leichnam verborgen war - heute noch zu bewundern in einem wundervollen Mosaik im rechten Querhaus! Die feierliche Beisetzung der wieder aufgetauchten Reliquie fällt zusammen mit der Einweihung der prachtvollen neuen Markuskirche im Jahre 1094.
Fazit: wen auch immer Rustico und Bono aus Alexandria mitgebracht haben, wer auch immer 1094 in der Krypta beigesetzt wurde - unter dem Markusbanner wurden die Venezianer zur bedeutendsten Seemacht des Mittelalters.
Ein Beitrag von Dr. Susanne Kunz Saponaro.